Digitalisierung
An die Zukunft gekoppelt
Die automatische Frachtkupplung ist der Schlüssel zum effizienteren Schienengüterverkehr: Sie beschleunigt die Zugbildung, erlaubt höhere Transportleistungen und bildet eine zentrale Komponente des digitalisierten Güterzugs der Zukunft. Bei der schweizerischen SBB Cargo arbeitet die modulare CargoFlex Kupplung von Voith bereits im Regelbetrieb. Ab Juni 2021 will SBB Cargo den gesamten kombinierten Binnenverkehr schrittweise auf die automatische Kupplung umstellen.
837.000.000.000 Tonnenkilometer. Diese gigantische Verkehrsleistung, rund 25 Prozent über der heutigen, prognostiziert allein der deutsche Bundesverkehrswegeplan für den Gütertransport in Deutschland im Jahr 2030. Sie wird sich nicht auf der Straße erbringen lassen. Und selbst mithilfe des Schienengüterverkehrs nur dann, wenn er künftig deutlich effizienter rollt. Ihn auszubauen und seinen Anteil am Mix der Verkehrsträger Schiene/Straße/Schifffahrt zu erhöhen, ist deshalb erklärtes Ziel der Politik – unter wirtschaftlichen Aspekten ebenso wie unter dem Druck, die im Vergleich zum Lkw deutlich bessere Umweltbilanz der Schiene in konkrete Einsparungen beim CO2-, Stickoxid- und Feinstaub-Ausstoß umzumünzen.
Doch eine Produktivitätsbremse verzögert die schnelle Umsetzung: die mittlerweile fast 160 Jahre alte Schraubenkupplung. Längst hat sich der untrennbar mit ihr verbundene, hohe manuelle Aufwand bei der Zugbildung zu einem entscheidenden Manko für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Schienengüterverkehrs entwickelt. Gefragt ist daher eine automatische Kupplung, die sowohl die Zugbildung beschleunigt als auch längere Zugverbände und dadurch höhere Transportleistungen ermöglicht. Im Personenverkehr ist sie seit Jahrzehnten Usus: Dort übernimmt die Scharfenberg-Kupplung diese Rolle und erlaubt das schnelle, einfache und sichere Kuppeln und Entkuppeln aller Züge von der Straßenbahn bis zum Hochgeschwindigkeitszug. Beim Warentransport ist darüber hinaus die Vorbereitung auf digitale Technik wichtig, um so gleichzeitig die Weichen zu stellen für den intelligenten Güterzug der Zukunft. Und nicht zuletzt auch die Arbeitssicherheit zu erhöhen, weil sich kein Rangierarbeiter mehr zwischen den Waggons aufhalten muss.
Bahnverbände und Industrievereinigungen – darunter der Technische Innovationskreis Schienengüterverkehr, der Verband der Bahnindustrie in Deutschland, der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und die Internationale Privatgüterwagen-Union – werben deshalb für die europaweite Umrüstung auf die Digitale Automatische Kupplung (DAK). „Mit der neuen Kupplungstechnologie verbinden wir in einem Schritt die überfällige Automatisierung des Wagenkuppelns mit der Welt der Schiene 4.0“, argumentiert Malte Lawrenz, Vorsitzender des Verbands der Güterwagenhalter in Deutschland.
Was noch nach Fiktion klingt, ist in der Schweiz längst Fakt. Dort zeigen SBB Cargo und Voith, dass die automatische Frachtkupplung in der Praxis funktioniert. In der Alpenrepublik fahren im kombinierten Verkehr, bei dem Container vom Lkw auf die Bahn verladen werden, bereits seit Mai 2019 regulär 25 Loks und 100 Waggons, die durch die CargoFlex von Voith verbunden sind. Sie basiert auf der im Personenverkehr bewährten Scharfenberg-Kupplung Typ 10 und lässt sich dank ihres spielfreien Prinzips als erste Frachtkupplung mit einem automatischen Entkuppelsystem und einer Signal oder Stromübertragung ausstatten. Dadurch werden vollautomatische Funktionsabläufe, das Durchleiten von Signalen und die elektrische Versorgung von Verbrauchern sichergestellt. „Wir sind europaweit der einzige Anbieter, der auf Basis der aktuellen Migrationsstrategie eine automatische Frachtkupplung im Regelbetrieb hat“, konstatiert Niklas Weidert, Key Account Manager Freight Couplers Rail EMEA bei Voith.
Die Schweizer hatten sich schon frühzeitig entschieden, in Technik zu investieren, um wettbewerbsfähiger zu werden und dem Mangel an Rangierpersonal zu begegnen. Dabei stand nicht allein die Automatisierung im Vordergrund, sondern auch die Reduzierung der Wartungskosten, etwa durch den Entfall der Seitenpuffer und die wartungsfreie Zug- und Stoßeinrichtung der CargoFlex. „Voith setzt in der Frachtkupplung bewährte Konstruktionsprinzipien ein und vermeidet bewusst wartungspflichtige Schraubenverbindungen im Lastpfad“, erklärt Jessica Amberg, Projektleiterin 5L-Zug bei SBB Cargo.
Die durch die automatische Kupplung möglichen Effizienzgewinne verteilen sich auf alle Marktteilnehmer. „Durch längere, schwerere, schnellere Züge profitieren Infrastruktur-Unternehmen von erweiterten Kapazitäten, während Betreiber geringere Betriebs- und Rangierkosten erreichen“, erklärt Voith Manager Weidert: „Für Wagenhalter sinkt der Wartungsaufwand durch fehlende Puffer und geringeren Verschleiß der Radsätze, weil die automatische Kupplung mit einem Stabilisierungsgelenk bei Kurvenfahrten für geringere Kräfte zwischen Rad und Schiene sorgt. Und Verlader können durch die höheren Nutzlasten pro Wagen und Zug neue Kunden gewinnen.“
Bei der Migration zur Digitalen Automatischen Kupplung müssen in Europa samt England, Norwegen und der Schweiz vorläufigen Berechnungen zufolge allerdings zwischen 432.000 und 485.000 Güterwagen umgerüstet werden, summiert eine Studie im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Zusätzlich sollten rund 17.000 Triebfahrzeuge mit einer automatischen Kupplung ausgestattet werden. Voith bietet die CargoFlex für Loks während einer Übergangszeit auch als Hybrid-Variante an, die sich durch ihren hochschwenkbaren Kopf ebenso als Gemischtzugkupplung mit Zughaken nutzen lässt.
Wegen des Umrüstungsaufwands forderte der damalige SBB-Cargo-CEO Nicolas Perrin schon beim Start des Pilotprojekts zur automatischen Kupplung, europäische Standards zu schaffen. „Das gemeinsame Vorgehen ermöglicht es uns, den Güterverkehrssektor gemeinsam weiterzuentwickeln und von den Vorteilen gleichermaßen zu profitieren“, appellierte der Manager. Anfang 2020 unterzeichneten sechs Schienengüterverkehrs-Verbände eine Charta, in der sie die Politik und die Branche auffordern, Kräfte zu bündeln und die Digitale Automatische Kupplung „als Schlüsseltechnologie für eine effiziente Schiene 4.0 aufs Gleis zu setzen“. Das Ziel: Spätestens 2030 sollen Güterwagen in ganz Europa automatisch kuppeln und von der Lok bis zum letzten Wagen durchgehend digital verbunden sein. Dann würden die automatisierte Zugbildung und Bremsproben ebenso Realität wie die digitale Integritätsprüfung und Ladungsüberwachung.
Bis dahin baut die SBB-Güterverkehrstochter ihre Pionierrolle mithilfe der Voith CargoFlex aus, gestützt auf die Erfahrungen aus der Praxis. „Der Betrieb läuft seit Einführung der automatischen Kupplung stabil“, sagt Jasmin Bigdon, Leiterin Asset Management SBB Cargo. Die Konsequenz: Ab Juni 2021 will ihr Unternehmen den gesamten kombinierten Binnenverkehr Schritt für Schritt auf die automatische Kupplung umstellen.