David mit Goliath –<BR>Ferngesteuerte Hafenschlepper

David mit Goliath – Ferngesteuerte Hafenschlepper

Sicher im Schlepptau

Die internationale Schifffahrt steht vor immensen Herausforderungen. Sicherheit und Effizienz müssen steigen. Innovative Lösungen und intelligente Systeme für den Einsatz von ferngesteuerten Schleppern sollen helfen. Drei Jahre lang forschte dazu das Verbundprojekt FernSAMS. Voith fährt auch bei der unbemannten Schifffahrt voran.

Szenario im Hafen Rotterdam, dem größten Tiefwasserhafen Europas: Ein gigantisches Seeschiff passiert die Wasserstraße, 330 Meter lang und 45 Meter breit. Bei einem Tiefgang von 24 Metern fährt der Koloss Richtung Hafenwendebecken, wo bereits sechs Schlepper auf ihn warten. Die vergleichsweise winzigen Assistenten, helfen beim Einparken. Die Schlepperleinen fliegen wie von Geisterhand, docken am Frachtschiffbug an und die kleinen Kraftpakete wuseln wie ein Wasserballett um das riesige Schiff herum, um es sicher zu seinem Ankerplatz zu bugsieren. Das ist beim „Port of Rotterdam", einem der größten Seehäfen der Welt, eigentlich nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich ist aber, dass weit und breit keine Schleppercrew in Sicht ist. Die Schlepper fahren ohne Besatzung. Ferngesteuert werden sie von ihrem Kapitän, der in gehöriger Distanz zum Ozeanriesen auf der Brücke eines konventionellen Schleppers steht. Via Mobilfunk stimmt der sich mit dem Kapitän des Großschiffs ab, um die Schlepper zu koordinieren.

Zugegeben, noch ist das Zukunftsmusik. Doch Voith glaubt fest an den Trend zur ferngesteuerten und auch autonomen Schifffahrt und ist deshalb Leitung des kontinentalen Projekts FernSAMS (Ferngesteuerte Schlepper bei An- und und Ablegemanövern großer Schiffe). Was das alles soll? Probleme lösen und zwar viele gleichzeitig.

Das Vorhaben FernSAMS adressiert die Herausforderungen, die mit zunehmendem Kostendruck der Reeder, höheren Transportaufkommen sowie kontinuierlich wachsenden Schiffsgrößen bei unveränderten Dimensionen der Wasserstraßen und Hafenanlagen einhergehen.
Dr. Dirk Jürgens, Vice President Design Technical Sales bei Voith

Steigende Kosten

Der Seeweg ist eine der wichtigsten Verbindungen für den internationalen Güterverkehr von und nach Deutschland. Prognosen gehen von einem Anstieg des Umschlagvolumens von rund 269 Millionen Tonnen auf 468 Millionen Tonnen bis 2030 aus. Dabei nimmt der Kostendruck auf dem internationalen Markt zu, was die Reedereien weltweit zwingt, große Schiffe einzusetzen. Das führt zu Engpässen in kleinen Häfen. Um dennoch die Sicherheit der Hafenanlagen und der Schiffe zu gewährleisten, werden viele Seeschiffe von bis zu sechs Assistenzschleppern unterstützt.

Mit einem Pfahlzug von 55 Tonnen (konventionell sind es 25) ziehen sie die Ozeanriesen zu und von den Liegeplätzen durch die zumeist engen Hafengewässer. Immer mehr große Schiffe treiben die Personalkosten in die Höhe, was die Reedereien belastet. Zumal ein Schlepper durchschnittlich 2500 Stunden pro Jahr im bezahlten Einsatz ist. Um die Einsatzbereitschaft zu gewähren, ist die Besatzung aber im Schnitt 8760 Stunden an Bord.

Eine standarisierte, automatisierte Schiffsassistenz würde die Kosten für die Reedereien und die Hafenbetreiber deutlich reduzieren und das Tempo der einzelnen Schiffmanöver erhöhen.
Dr. Dirk Jürgens, Vice President Design Technical Sales bei Voith und Projektleitung bei FernSAMS
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Prognosen gehen von einem Anstieg des Umschlagvolumens von rund 269 Millionen Tonnen auf 468 Millionen Tonnen bis 2030 aus.
Bis zu sechs Schlepperschiffe sind im Einsatz, wenn ein Ozeanriese ins Hafenbecken bugsiert wird.
Bis zu sechs Schlepperschiffe sind im Einsatz, wenn ein Ozeanriese ins Hafenbecken bugsiert wird.

Große Sicherheitsrisiken

Selbst erfahrenste Schlepper-Besatzungen leben gefährlich. Feuer, Kentern, Kollision – immer wieder kommt es zu Unfällen. Vor allem bei Übergabe der Schleppleine – von Hand. Denn dazu muss der vor dem Schiff operierende Schlepper direkt vor den Bug des fahrenden Frachters steuern. Hafenlotsen auf dessen Brücke koordinieren das mit den Schlepperkapitänen. Da immense Kräfte auf den Leinen lasten, kann es durch kleinste technische Probleme oder Manövrierfehler zum Bruch der Leine oder zur Kollision zwischen Schiff und Schlepper kommen. Mehrere Schlepper in diesem Team durch unbemannte Schiffe zu ersetzen und von Bord eines der beteiligten Fahrzeuge per Fernsteuerung lenken zu lassen – schon wäre die Gefahr umschifft. Zusätzlich zum Risiko der Besatzung, entwickelt sich ein Unfall in der Schiffsassistenz wegen des Öls im Hafengebiet schnell zu einer Katastrophe.

Die Unfallzahlen zu minimieren, bedeutet präventiven Umweltschutz.
Dr. Dirk Jürgens, Vice President Design Technical Sales bei Voith und Projektleitung bei FernSAMS

Starke Expertenrunde

Ziel des Verbundvorhabens FernSAMS ist daher die Entwicklung eines ferngesteuerten Schleppers zur Erhöhung der Sicherheit und Effizienz in der Schiffsnavigation in Häfen. Es gehört zum Forschungsprogramm „Maritime Technologien der nächsten Generation" des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWI) als Förderer. Voith hat sich mit der TU Hamburg-Harburg, dem Fraunhofer-Center für maritime Logistik und Dienstleistung, dem Bundesamt für Wasserbau sowie mehreren Technologie- und Kommunikationsspezialisten starke Partner an Bord geholt.

Technologie für die Autonomie

„Neben dem Schienenverkehr ist der Schiffsverkehr derjenige mit dem größten Autonomisierungspotenzial“, weiß Dr. Jürgens. „Wir liefern für dieses Zukunftsthema die Technik, forschen mit renommierten Partnern und machen uns bereit, die Kunden zu unterstützen.“ Voith ist prädestiniert für das Projekt, schließlich hat das Unternehmen mit dem Voith Schneider-Propeller (VSP) schon 1927 ein Antriebssystem geschaffen, das durch seine schnelle und akkurate Kraftumsetzung auch Assistenzschiffen eine agile und präzise Wendigkeit bringt. Die von Voith entwickelten Wassertrecker gelten deswegen als der sicherste Schleppertyp. Ein Diesel-elektrisches Antriebskonzept wäre noch erheblich umweltfreundlicher.

Neben dem Schienenverkehr ist der Schiffsverkehr derjenige mit dem größten Autonomisierungspotenzial. Wir liefern für dieses Zukunftsthema die Technik, forschen mit renommierten Partnern und machen uns bereit, die Kunden zu unterstützen.
Dr. Dirk Jürgens, Vice President Design Technical Sales bei Voith und Projektleitung bei FernSAMS
Der Voith Wassertrekker wird in vielen großen Häfen als wendige maritime Arbeitsbiene geschätzt.
Der Voith Wassertrekker wird in vielen großen Häfen als wendige maritime Arbeitsbiene geschätzt.

Enorme Steigerung der Effizienz

Durch die (halb-)autonome Steuerung kann sich das Design der Schleppschiffe komplett verändern. Ohne Crew entfallen Aufenthaltsräume, Sanitäranlagen, Geräuschisolation und sogar die Brücke. Dadurch sinkt das Gewicht der schwimmenden Kraftpakete, was sie noch wendiger macht. Das wäre von Vorteil für die völlig neuen Ansätze, die Dr. Jürgens bereits im Kopf hat.

Wir könnten künftig Schwarmtechnologie einsetzen und statt mehreren großen viele kleine Schlepper pro Manöver. Je kleiner und leichter die Assistenten sind, desto weniger Energie verbrauchen sie, was Kosten und Umweltbelastung senkt.
Dr. Dirk Jürgens, Vice President Design Technical Sales bei Voith und Projektleitung bei FernSAMS

Kluge Kommunikationstechnik

Soweit ist das Expertenteam noch nicht. „Der Einsatz von Schleppschiffen ist sehr komplex, entsprechend hoch sind die Anforderungen an solch ein System", betont Projektleiter Dr. Jürgens. Wenn menschlichen Erfahrungswerte und Geschicklichkeit wegfallen, müssen Einflussfaktoren wie Geschwindigkeit, Fahrtrichtung, Maschinenleistung der beteiligten Schiffe sowie Wind- und Wasserströmungen ganz genau bemessen sein. Dazu seien eine sichere Datenverbindung zum Datenaustausch und redundante Systeme nötig, falls sich die gewaltigen Stahlmassen des zu assistierenden Schiffes zwischen Sender und Empfänger schieben.

Der Mobilfunkstandard 5G könnte solch eine Übertragungslösung sein. Wahrscheinlich kommt Satellitenkommunikation als Sicherheitsredundanz dazu.
Dr. Dirk Jürgens, Vice President Design Technical Sales bei Voith und Projektleitung bei FernSAMS
Wendig, sicher, kompakt, umweltfreundlich: das Testmodell des ferngesteuerten Schleppers.
Wendig, sicher, kompakt, umweltfreundlich: das Testmodell des ferngesteuerten Schleppers.

Mensch und Maschine

Wer Effizienzsteigerung hört, denkt schnell an Personalabbau. FernSAMS will keineswegs Schlepperbesatzungen eliminieren. „Im Gegenteil, auf sie warten andere wichtige Aufgaben", betont Dr. Jürgens. Feuerlöschen, Ölunfallbekämpfung, Überwachung des Hafengebiets zum Beispiel. Umfangreiche Tests mit den Hamburger Hafenlotsen hat es bereits im realitätsnahen Schiffsimulator von MTC Hamburg gegeben. Der erste Praxistest im „Port of Rotterdam" musste wegen der Coronakrise auf einen späteren Zeitpunkt im Jahr 2020 verschoben werden. Fortsetzung folgt.

Letzte Aktualisierung: 28.09.2020

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